Liebe Oma,

herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele Jahre es nun bei Dir sind. Vor langer Zeit habe ich mir dein Geburtsjahr gemerkt, und damals schien es mir unvergesslich zu sein, obwohl ich es nicht einmal selbst erlebt habe. War es 1921 oder 1923? Über einhundert Jahre. Das ist so viel Zeit; in der Du so viel lernen konntest.

Du weißt, wie Erdbeeren richtig eingeweckt werden, Marmelade hergestellt aus Stachelbeeren, Johannisbeeren, etc. Alles aus deinem eigenen Garten. Der Kellerschrank ist voll mit Gläsern allerlei Größe und Inhalt, einer köstlicher als der andere.

Meckert Opa immer noch, wenn er bemerkt, dass Du mir wieder heimlich von seinem Holdersaft gegeben hast? Wie kommt er aber bloß auf die Idee, dass dieses wahnsinnig gute Getränk nur ihm gehören soll, wo Du den Saft hergestellt hast? Ich habe das in den vergangenen 50 Jahren nicht verstanden, und werde das wohl auch nicht mehr tun.

Ich schmecke bis heute die säuerliche Süße des Holdersafts auf meiner Zunge. Ich wollte immer mehr davon haben, und immer mehr unverdünnt, bis ich endlich herausgefunden habe, dass er nur mit Sprudel verdünnt überhaupt schmeckt. Ansonsten ist der Saft so sauer, dass es einen lupft. Ich habe das gelernt, als ich endlich erwachsen heimlich aus dem Vollen geschöpft habe. Nein, Du hattest die ganze Zeit völlig Recht: mit Sprudel schmeckt der Holdersaft, und nur so.

An deinem Geburtstag schmeckt mir der Holdersaft sogar besonders gut. Bestell Opa meinen Gruß.

Herzlich

Wolfgang